„Willkommen an Bord“ Prof. Dr. Eray Çaylı

16. Februar 2023, von Çaylı/Red.

Foto: privat

Prof. Dr. Eray Çaylı besetzt eine der drei Open-Topic-Professuren, welche die Exzellenzuniversität Hamburg im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder schafft.

Jedes Jahr kommen zahlreiche neue Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Universität Hamburg. In dieser Reihe stellen wir sie und ihre Forschungsgebiete vor. Dieses Mal: Geograph Prof. Dr. Eray Çaylı

Prof. Dr. Eray Çaylı ist im Februar 2023 von der London School of Economics and Political Science an die Universität Hamburg gekommen und tritt eine Professur für „Humangeographie, insbesondere Gewalt und Sicherheit im Anthropozän“ an.

Mein Forschungsgebiet in wenigen Sätzen:

Ich erforsche die Überschneidung von Gewaltgeschichte und zeitgenössischer Politik der Ökologie, insbesondere in der Region um die heutige Türkei – wo ich geboren und aufgewachsen bin – und der Diaspora, die aus dieser Region stammt. Meine Arbeit setzt sich kritisch mit dem „Anthropozän“ auseinander – einer wissenschaftlichen These, die vorschlägt, unser gegenwärtiges geologisches Zeitalter nach dem Menschen (anthropos) zu benennen, der als einziger entscheidender Faktor die Funktionsweise und die physische Beschaffenheit der Erde prägt. Ich erweitere diese Vorstellung einer homogenen Menschheit durch qualitative Methoden wie Ethnografie und einen empirischen Fokus auf materielle und visuelle Kulturen und zeige, dass das „Anthropozän“ in Wirklichkeit von den Urhebern und Nutznießern gewalttätiger politischer Projekte verursacht wurde und historisch marginalisierte Gemeinschaften unverhältnismäßig stark betroffen hat.

Wie ich meiner Familie meine Arbeit erkläre:

Dazu muss man wissen, aus welcher Art von Familie ich stamme. Meine Eltern wurden beide in Arbeiterfamilien geboren, gehörten zur ersten Generation, die eine Universitätsausbildung erhielt, und wurden dann Beamte. Da sie persönlich während eines Großteils ihres Erwachsenenlebens einen beträchtlichen sozialen Aufstieg erlebt haben, sind sie jetzt sehr besorgt über all die politischen und ökologischen Umwälzungen, die viele Teile unserer sich erwärmenden und kriegerischen Welt betreffen. Es handelt sich dabei jedoch um eine besondere Art der Besorgnis: Sie beinhaltet eine Art von Trauer und Verzweiflung, die die Grundprinzipien des Systems, das ihnen ihren Aufstieg ermöglicht hat, nicht in Frage stellt. Ich erkläre ihnen, dass meine Arbeit sie dazu ermutigt, diese Grundsätze zu hinterfragen und sich mit denjenigen zu solidarisieren, die durch dasselbe ungerechte System benachteiligt werden, das andere (wenn auch in unterschiedlichem Maße) begünstigt hat. Übrigens habe ich auch ein ganzes Buch auf Türkisch und für die Öffentlichkeit geschrieben, damit meine Familie – ob biologisch oder nicht – meine Gedanken in einer Sprache lesen kann, die sie versteht! Das Buch trägt den Titel „İklimin Estetiği“ und kostet nur etwa 1,50 Euro. Es wurde mit einem Literaturpreis ausgezeichnet und ist gerade in die zweite Auflage gegangen.

Warum ich froh bin, in Hamburg zu sein, in der Stadt und an der Universität:

Ich bin froh, in einem Hochschulsystem zu arbeiten, in dem die große Mehrheit der Studiengänge bedingungslos gebührenfrei ist. Ich bin froh, an einer Universität zu arbeiten, die über den Tellerrand der Disziplinen hinausblickt. Meine Stelle war als themenoffene Professur ausgeschrieben –  ausgerichtet auf ein dringendes Problem und nicht auf eine bestimmte Disziplin. Es war diese nicht-disziplinäre und problemorientierte Ausrichtung, die meine Aufmerksamkeit erregte und mich veranlasste, mich auf die Professur zu bewerben. Obwohl der Begriff „Interdisziplinarität“ im heutigen Hochschulwesen in aller Munde ist, wird er nur selten von einer Universität so ernst genommen, dass er in die institutionellen Mechanismen aufgenommen wird. Darüber hinaus ist diese Universität weithin als eine der weltbesten Universitäten für die Erforschung des Klimawandels anerkannt, was durch ihre zahlreichen Forschungsgruppen, die sich diesem Thema widmen, belegt wird. Ich werde dem Exzellenzcluster CLICCS angehören – ein weiterer Grund, warum sich meine Ernennung richtig anfühlt.

Schließlich verdient auch die Stadt selbst eine Erwähnung. Sie beherbergt viele lebendige Gemeinschaften und Orte (städtische Räume und Museen), die für meine Interessen, meine Arbeitsweise und die Teile der Welt, aus denen ich komme und in denen ich gearbeitet habe, von Bedeutung sind. Wenn ich mich mit der Politik der Gewalt und der Ökologie auseinandersetze, verwende ich einen materiellen, räumlichen und visuellen Fokus, da diese beiden Politiken in hohem Maße verkörpert sind. Daher ist das, was Hamburg in dieser Hinsicht zu bieten hat, ein großer Gewinn für meine Lehre.

Meine Pläne für die Arbeit an der Universität Hamburg:

Zu meinen Plänen gehört, was das Leben eines Akademikers mit sich bringt: Artikel und Bücher, Förderanträge und Ideen für Symposien, Konferenzen, Vortragsreihen und dergleichen. Bei mir dreht sich derzeit alles um den Begriff des Notfalls. Wie der Ausdruck „Klimanotstand“ zeigt, spielt der Begriff des Notstands eine immer wichtigere Rolle bei den heutigen Ansätzen zum Klimawandel. Meine laufenden Projekte zielen darauf ab, diesen Begriff in Bezug auf spezifische politische Traditionen der Notstandsherrschaft zu bewerten, die der Sicherung von Staaten und Kapital (und nicht den am meisten gefährdeten Personen) Vorrang einräumen und die tendenziell ihren Weg in die Mainstream-Reaktionen auf den Klimawandel finden. Abgesehen von diesen persönlichen Plänen freue ich mich am meisten auf die Zusammenarbeit mit meinen Kollegen – insbesondere mit denen von CLICCS – und möchte ihr Priorität einräumen. Ich bin gespannt darauf, wie meine Forschungsinteressen und -pläne nicht nur zu ihrer Arbeit beitragen, sondern auch im Gespräch mit ihnen überdacht und überarbeitet werden können, so dass wir die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, gemeinsam und im Dialog angehen können, was wirklich der einzige Weg ist, auf dem wir hoffen können, irgendwelche Fortschritte zu erzielen.

Warum Studierende meine Vorlesungen besuchen sollten:

Ich betrachte das Lehren als einen Dialog und nicht als einen Monolog. Selbst wenn ich eine Vorlesung halte, tue ich mein Bestes, um interaktiv zu sein. Ich glaube, dass die Studierenden genauso viel voneinander lernen wie von den Lehrenden. Daher sehe ich meine Rolle darin, ein möglichst gutes Umfeld für gemeinsames Denken, Arbeiten und Lernen zu schaffen, und nicht nur als Vermittler von Informationen in eine Richtung. Die zentrale Rolle, die Besuche vor Ort und Anschauungsmaterial in meinen Kursen spielen, kommt diesem dialogischen und interaktiven Ansatz zugute. Ich vertrete die Auffassung, dass kritisches Denken in erster Linie eine praktische Fähigkeit ist. Deshalb werden die Studierenden in meinen Kursen reichlich Gelegenheit haben, es als solche in Zusammenarbeit mit anderen zu entwickeln. Ein zusätzlicher Vorteil besteht darin, dass die Studierenden in meinen Kursen aufgrund meines interdisziplinären und ethnographisch fundierten Ansatzes die Möglichkeit haben, auf der Grundlage eines empirisch fundierten und kontextspezifischen Verständnisses zu arbeiten, um die dringenden Probleme unserer von Kriegen und Erwärmung geprägten Welt anzugehen, und nicht auf der Grundlage eines bereits bestehenden disziplinären Rahmens. Damit soll natürlich nicht die Bedeutung disziplinärer Spezialisierungen bestritten werden. Aber die disziplinäre Spezialisierung profitiert davon, wenn sie durch einen Ansatz ergänzt wird, der von konkreten, gelebten und verkörperten Situationen ausgeht, um ein Umfeld zu schaffen, in dem verschiedene disziplinäre Rahmungen miteinander ins Gespräch kommen können. Studierende, die an einem solchen Ansatz interessiert sind, sollten meine Kurse besuchen.

Blick in die weite Welt: mit diesen internationalen Einrichtungen, Universitäten oder Institutionen arbeite ich zusammen:

In den letzten zwölf Jahren habe ich im Vereinigten Königreich gearbeitet, die erste Hälfte davon hauptsächlich am University College London und die zweite an der London School of Economics and Political Science). Ich habe regelmäßig an den Workshops der British Academy zum Thema Gewalt teilgenommen, von denen einer zu einem erfolgreichen Antrag auf eine gemeinsame Startfinanzierung führte, an dem auch Forschende aus Kanada beteiligt waren. Diese Zusammenarbeit dauert noch an. In Kontinentaleuropa unterhalte ich dauerhafte Arbeitsbeziehungen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Wageningen (Niederlande) und der Goethe-Universität Frankfurt in Deutschland sowie in den USA mit Forschenden der Syracuse University. Da ich bisher hauptsächlich in der Türkei gearbeitet habe, habe ich auch mit dortigen Universitäten zusammengearbeitet. Außerdem ist es mir ein großes Anliegen, auch ein nichtakademisches Publikum in meine Arbeit einzubeziehen. Ich arbeite häufig mit Nichtregierungsorganisationen, unabhängigen Forschungs- und Bildungseinrichtungen, Kunst- und Kultureinrichtungen und Berufsverbänden zusammen, deren Arbeit einen Bezug zur Ökologie hat.

Warum meine Forschung für die Gesellschaft wichtig ist:

Der erste Grund ist die Klärung des Verhältnisses zwischen der Politik der Ökologie und allen anderen brennenden gesellschaftspolitischen Fragen. Die Machthaber auf der ganzen Welt erkennen heute im Großen und Ganzen an, dass wir uns an einem historischen Wendepunkt befinden, an dem Klimawandel und Umweltkatastrophen dringende Maßnahmen erfordern. Aber wenn es darum geht, wie genau diese Maßnahmen ergriffen werden sollen, neigen sie dazu, auf Gewohnheiten zurückzugreifen und im Grunde genommen die Geschäfte wie gewohnt fortzuführen, nur mit einem grünen Anstrich. Dadurch werden Benachteiligungen, die die unsere Welt beherrschenden Systeme verursacht haben, noch verstärkt.

Die Bewältigung der ökologischen Krise des Planeten, mit der wir heute konfrontiert sind, ist weder ein Luxus noch von anderen großen gesellschaftspolitischen Problemen losgelöst. Die Bewältigung dieser Probleme und die Bekämpfung des Klimawandels sind ein und dieselbe Aufgabe. Die Tatsache, dass sich meine Forschung mit beiden Problemen befasst, macht sie gesellschaftlich wichtig.

Der zweite Grund hat damit zu tun, wie ich Fragen des kulturellen Ausdrucks mit pragmatischen und systemischen Belangen verwebe. Die Forschung und das Denken zu den Themen, die ich in meiner Arbeit untersuche, haben viel zu lange an einer Unterscheidung zwischen weichen und harten Wissenschaften festgehalten. Die Beschäftigung mit systemischen Fragen wurde als Sache der „harten“ Wissenschaften betrachtet, während das Partikulare und Kulturelle als Domäne der „weichen“ Wissenschaften angesehen wurde. Doch die gegenwärtige historische Situation, die die engen Verbindungen zwischen gewalttätigen Geschichten und der Ökologiepolitik offenbart hat, erfordert, dass wir vom Partikularen zum Planetarischen übergehen und den kulturellen Ausdruck nicht nur als symbolische Frage, sondern auch in seinen systemischen und pragmatischen Auswirkungen betrachten. Gewaltsame Geschichten haben epistemische und politische Hierarchien geschaffen, die im schlimmsten Fall bestimmte Leben als entbehrlich betrachtet haben und im besten Fall Aspekte der Lebensweisen marginalisierter Gemeinschaften als kulturelle Besonderheiten herausgepickt haben, indem sie sie aus ihren soziopolitischen Kontexten herausgelöst haben, wo sie mit systemischer und pragmatischer Bedeutung aufgeladen sind. Was bei der Verflechtung von Gewaltgeschichte und Ökologiepolitik auf dem Spiel steht, ist also die Frage, wie das Leben selbst verstanden und praktiziert wird – was könnte für die Gesellschaft wichtiger sein als das!

Open-Topic-Professur

Im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder hat die Exzellenzuniversität Hamburg drei Open-Topic-Professuren besetzt. Die neuberufenen Professorinnen und Professoren sollen dazu beitragen, die Profilinitiativen der Universität zu Potenzialbereichen weiterzuentwickeln. Eray Çaylı ist in der Profilinitiative „Gewalt- und Sicherheitsforschung“ angesiedelt.

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